Die Freistunde im vorangegangen Abschnitt zeichnet ein düsteres, zugespitztes Bild aus dem Alltag eines Schülers an einer fiktiven Regelschule in Deutschland. Immer wieder muss er während seines Spazierganges erleben, dass Lernen ein notwendiges Übel ist – langweilig, realitätsfremd und zudem unter Notendruck. Fakt ist aber, dass viele Schüler, sei es in Deutschland oder in anderen Ländern weltweit, einen ähnlichen Schulalltag jede Woche aufs Neue erleben. Schüler, die unmotiviert dem Schulunterricht folgen, Hausaufgaben nur unter Androhung von Strafen machen oder Lernstoff nur aus Angst vor einer schlechten Note lernen – es sind Symptome, die jeder kennt, der selbst einmal Schüler war, als Eltern Kinder hat oder im Bildungsbereich arbeitet.
Viele Schüler klagen selbst über Prüfungs- und Leistungsdruck in ihrem Schulalltag, über ungerechte Bewertungen oder den frühen Unterrichtsbeginn. Doch dabei bleibt es leider allzu oft. Die Klausuren werden überstanden, schlechte Noten werden vergessen und es wird gewartet. Es wird gewartet, dass die Schule am Nachmittag zu Ende ist, dass endlich die Schulferien kommen und dass man in ein paar Jahren selbst auch aus der Schule draußen sein wird. Ist dann erst einmal der Schulabschluss geschafft, tritt eine Art Amnesie ein: die Langeweile im Unterricht wird vergessen, die schöne Klassenfahrt und das gemeinsame Sommerfest bleiben in Erinnerung. Warum also sich noch Sorgen machen um die Schule, wenn man diese erst einmal abgeschlossen hat?
Was man glaubt, mit dem Schulabschluss hinter sich gelassen zu haben, wird jedoch immer wieder zurückkehren – in der Ausbildung, im Studium oder im Berufsleben. Die Nachwirkungen zeigen sich in vielfältigen Formen. Was bleibt, ist oftmals die Erfahrung, dass Lernen dazu dient, um Prüfungen zu bestehen, nicht aber, dass es Freude bereiten kann. Kaum ein Schüler würde
Lernen als eines seiner liebsten Hobbys angeben. Dies zeigt sich insbesondere in einer Abneigung gegen jene Themen, welche man während seiner Schulzeit selbst nie hätte lernen wollen, sich jedoch damit befassen musste. Als ein Beispiel dafür dient Vielen das Fach Mathematik. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist es jedoch wichtig, dass Menschen, welche die Schulen verlassen, aufgeschlossen sind immer wieder aufs Neue dazuzulernen und neue Themen kennenzulernen.
Bildung selbst hat viele Facetten. Sie bezeichnet die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten eines Menschen, wozu nicht nur der Erwerb von Wissen gehört, sondern z.B. auch die Entwicklung der Persönlichkeit und das Erlangen von grundlegenden Kompetenzen. So wie das Wissen, welches als erstrebenswert gilt, als auch die Methoden, es zu erlangen, sich ändern, so ist auch Bildung ständig im Wandel. Bildungsziele, Lehrpläne und Berufsanforderungen verändern sich genauso wie die Wege zu Bildung und die Form wie Bildungsveranstaltungen ablaufen. Und so wie sich die Bildungslandschaft verändert, wird auch darüber diskutiert, welchen Weg diese Veränderung einschlagen sollte.
Bildung ist ein viel diskutiertes Thema, wenn es um Bildungssysteme, Bildungspolitik oder um Bildungsmiseren geht. Dabei haben all die Bildungsdiskussionen, Bildungsmaßnahmen und Bildungsakteure ein gemeinsames Ziel vor Augen: gebildete Menschen. Die jungen Menschen, welche in unserer Gesellschaft heranwachsen, sollen sowohl ein breites Allgemeinwissen, als auch Fachkompetenz besitzen, sollen verantwortungsbewusst sowie kritikfähig, sollen leistungsfähig und lernbereit (Stichwort Lebenslanges Lernen), wie auch weltoffen und tolerant sein.
Wenn von Veränderungen im Bildungssystem die Rede ist, dann geht es meistens um die Schulen. Dabei herrscht in der Diskussion ein Schultypus – meiner Erfahrung nach – ganz besonders vor: die Gymnasien. Sind die Abituranforderungen zu hoch oder zu niedrig? Wird sowohl „leistungsschwächeren“ Schülern geholfen, als auch „Begabtenförderung“ betrieben? Sind die Klassen zu groß oder zu klein und gibt es genügend finanzielle Mittel für die Schulen? Dies sind typische Fragestellungen, welche Bildungsdiskussionen gegenwärtig bestimmen.
Dabei darf man aber nicht vergessen, dass unser Bildungssystem natürlich nicht nur aus Gymnasien besteht. Genauso bedenken muss man andere Schultypen, aber auch Hochschulen und Universitäten. Deshalb lautet der Titel dieses Buch nicht „Schule im Wandel“, sondern „Bildung im Wandel“.
Während meiner Schulzeit habe ich selbst Erfahrungen mit dem Besuch und dem Schulalltag an Regelschulen innerhalb des deutschen Bildungssystems gesammelt. Es waren aber nicht nur diese Erfahrungen, sondern auch die verbreitete Resignation unter der Schülerschaft („bald ist es vorbei“), welche mich dazu veranlasste, im April 2014 die AG Bildung im Wandel am Humboldt Gymnasium Radeberg (HGR) zu gründen.
Es war die Erfahrung, dass sich viele Schüler, aber auch Lehrer, Veränderungen in ihrem Schulalltag wünschen würden, dass es aber oftmals bei Wünschen blieb. Es ist sehr einfach sich über etwas aufzuregen, aber nichts dagegen zu unternehmen und zu hoffen, dass es bald vorüber ist. Genau das aber wollte ich nicht. Die AG Bildung im Wandel sollte eine Plattform innerhalb der Schule bereitstellen für Denkanstöße, Meinungsaustausch und Diskussionen rund um das Thema Bildung.
Es gibt bereits viele Bücher, welche sich mit Grundfragen, Werten und dem Erlangen von Bildung befassen. Da gibt es Ratgeber, Patentrezepte und Methodensammlungen, genauso wie Didaktik-Fachbücher. Diese Bücher wurden im Allgemeinen von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben, welche mit Bildung zu tun haben. Was dabei aber oftmals zu kurz kommt, ist die Sichtweise der Lernenden – der Schüler und Studenten. Gerade diese sind es aber, für die Schule gemacht wird und welche unmittelbar von Entscheidungen im Bildungsbereich betroffen sind.
Zwölf Jahre lang war ich Schüler an verschiedenen Regelschulen in Deutschland, wo ich mein Abitur schließlich mit einem Abiturdurchschnitt von 1,0 abgeschlossen habe. Ich schreibe dies nur zur Vermeidung von Missverständnissen. Zwölf Jahre lang habe ich Schule aktiv erlebt und erlebe Bildung als Student an einer Universität immer noch. Aufbauend auf diesen Erfahrungen und jenen mit der AG Bildung im Wandel habe ich dieses Buch über Bildung aus der Sicht eines Lernenden geschrieben. Dieses Buch richtet sich in keiner Weise gegen einzelne Personen oder Personengruppen, sondern hinterfragt allgemein Vorurteile und alteingesessene Meinungen in unserem Bildungssystem.
In erster Linie setzt sich dieses Buch mit Herausforderungen und Problemen in unserem Bildungssystem auseinander; zweitens soll es aber auch mögliche Wege zu einer neuen Lernkultur aufzeigen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Entwicklung unserer AG Bildung im Wandel. Es wird sich in den nachfolgenden drei Kapiteln jeweils auf einen der drei Kernpunkte konzentrieren: die Lernvorgaben durch Lehr- und Stundenplan, den Zwang zum Lernen durch Notendruck und Abschlüsse sowie die undemokratische Struktur des Bildungssystems. Das letzte Kapitel handelt von möglichen Wegen für zukünftige Veränderungen und von Initiativen, welche angefangen haben diese Wege zu gehen.
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