Freistunde statt eines Vorwortes

Er stand auf dem Gang, während sich nach und nach die letzten Türen schlossen und eine unheimliche Stille auf dem Gang einkehrte. Nur dumpf drang aus den Klassenzimmern noch das Murmeln der Schüler und das Reden der Lehrer, unterbrochen von gelegentlichen Ermahnungen – es waren ja noch jüngere Klassen.
Von früh an hatte er gelernt, dass die Familie unter der Woche getrennt werden musste. Die Eltern mussten zur Arbeit gehen und die Kinder besuchten eine Schule. In der Schule hatte er vor allem gelernt still zu sitzen, sich anzupassen und die Antworten zu geben, welche der Lehrer erwartete.
Lernen machte offensichtlich keine Freude; zumindest nicht, wenn man dazu gezwungen wurde. Zwang zum Lernen war aber wichtig, damit er sich auch mit dem Lernstoff beschäftigte, der ihn überhaupt nicht interessierte. So lernte er wenigstens, mit welchen Themen er nach den Leistungskontrollen nie wieder etwas zu tun haben wollte.
Jedes Jahr galt es, sich an einen anderen Stundenplan anzupassen. Der Stundenplan für dieses Schuljahr sah vor, dass er heute zur ersten Schulstunde Unterricht hatte. Der Gedanke an mögliche Konsequenzen hatte ihn dazu bewegt, den Wecker nicht zu ignorieren. Auch sich krank zu melden war keine Option, denn das ging nicht so oft. Wie jeden Morgen unter der Woche war er daher aufgestanden, hatte keine Zeit für das Frühstück gehabt und war dann hastig und müde zur Schule aufgebrochen. Zuspätkommen und sonstige Abweichungen vom Stundenplan wurden geahndet, schließlich gab es die Schulpflicht, welche die Anwesenheit der Schüler zu den Unterrichtsstunden erforderte.
Wie an so vielen anderen Schultagen hatte er in der ersten Unterrichtsstunde gesessen und der Unterricht war spurlos an ihm vorbeigezogen, während er sich hungrig und müde die Zeit mit dem Malen von Comics vertrieb. Immer wieder hatte er sich über den Stundenplan geärgert, welchen er als so unnatürlich empfand. Er teilte den Tag in zwei Hälften, die Schule am Morgen und das scheinbar wirkliche Leben am Nachmittag. Der Stundenplan beachtete nicht, ob er gerade lernen konnte oder gar wollte. Er gab die Abfolge der Unterrichtsfächer einfach vor.
Daran dachte er in der ersten Schulstunde, während sein Blick der quälend langsamen Zeigerbewegung der Uhr folgte. Plötzlich setze die Schulglocke ein – es war soweit. Mit der Anmut einer Werksirene erlöste sie ihn von der Schulstunde und entließ ihn in die erste Pause des Schultages – soweit alles nach Plan. Als er aus dem Klassenzimmer trat, viel ihm auf, dass sich eine kleine Schülergruppe um den Vertretungsplan versammelt hatte. Wie durch ein Wunder war die zweite Schulstunde für diesen Tag ausgefallen; einfach so, er hatte es erst diesen Morgen erfahren. Dank sei dem Lehrermangel, dass es keinen Ersatzunterricht gab. So stand er nun auf dem Gang und freute sich hier zu stehen, während er die anderen Schüler in den Klassenzimmern durch die Glasscheibe neben den Zimmertüren beobachtete.
Vorerst war er frei, auch wenn er das Schulgebäude nicht verlassen durfte. Schon vor einiger Zeit war die Schulbibliothek aus finanziellen Gründen geschlossen worden; auch eine Cafeteria gab es leider nicht. Er beschloss, den Gang entlang zu schlendern, vorbei an dem verwaisten Büro des Schülerrates, hin zu den Klassenzimmern. In den Klassenzimmern links und rechts bot sich ihm immer wieder das gleiche Bild: teilnahmslose, gelangweilte, bisweilen sogar apathische Schülergesichter und ein Lehrer, welcher vor ihnen stand.
Er wusste, diese Lehrer konnten nichts dafür, dass die Klassen ausgerechnet jetzt gerade Unterricht bei ihnen in diesen Zimmern hatten. Die Lehrer waren Lehrer geworden, weil sie gerne etwas mit Kindern zu tun hatten, weil sie jungen Menschen etwas mit auf ihren Lebensweg geben wollten oder auch aus Begeisterung am eigenen Fach. Doch Begeisterung wurde nicht gelehrt, das stand nicht im Lehrplan.
Dort standen Themen und Fähigkeiten, welche dem Schüler vermittelt werden mussten,  wie in einer Produktbeschreibung. Die Interessen des Einzelnen konnten dabei selbstverständlich nicht berücksichtigt werden – wie denn auch bei so vielen Schülern? Wer weiß schon, was für Anforderungen in zwanzig Jahren auf die heutigen Schüler  zukommen werden? Da vermittelt man lieber rechtzeitig jedem Schüler eine breite Allgemeinbildung, denn in 20 Jahren ist es zum Dazulernen zu spät. Dann ist der Zug abgefahren, wie man so hört.
Das dachte er sich immer wieder, als er den Gang entlang schlenderte. Nur schade, dass dieses Grundwissen niemals wirklich vorhanden war. Jedes Mal, wenn ein Thema erneut behandelt werden sollte, mussten erst ausführlich die Grundlagen der letzten Schuljahre wiederholt werden. Was übrig blieb, war ein grobes Halbwissen und die Hoffnung, sich mit den unliebsamen Themen nie wieder beschäftigen zu müssen. Motivation und  Begeisterung für späteres Dazulernen waren abhanden gekommen, außer für die Themen, welche einen wirklich interessiert hatten.
Die Ursache davon zeigte sich ihm, als er am anderen Ende des Ganges angekommen war. Das Bild des letzten Klassenzimmers sah anders aus! Die Schüler waren gespenstisch still über ihre Zettel gebeugt, der Lehrer saß vorne mit wachsamen Augen. Es schien eine Klausur geschrieben zu werden. Er hatte gelernt, während der Leistungskontrollen bei seinen Sitznachbarn heimlich abzugucken – mit der Zeit war er sogar richtig gut darin geworden. Denn dies war das eigentliche Ziel des Lernens: Leistungskontrollen zu schreiben, um hinterher wieder vergessen zu können. Zum tiefgründigen Verstehen und langfristigen Einprägen ließ der Lehrplan keine Zeit.
Damit man diese Klausuren ernst nahm, gab es Zahlenwerte, sogenannte Noten. Diese entschieden über die Schulart, über den Zutritt zu Universitäten und allgemein über den Bildungsweg guter und schlechter Schüler. Fehler waren unerwünscht, logisch, denn sie führten zu schlechten Noten. Es gab jedes Mal nur eine Chance – man konnte Klausuren ja nicht zweimal schreiben. Entsprechend wurde Leistungsdruck geschaffen, gleich einer Konkurrenzsituation zwischen den Lernenden. Dass alle Schüler gute Noten erhielten, war unvorstellbar, schließlich sollte die Spreu vom Weizen getrennt werden.
Er hatte lange die Schulklassen beobachtet und gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Langsam ging er an den Gang entlang zu spazieren, zurück dorthin, von woher er gekommen war. Die Freistunde neigte sich dem Ende zu. Die Schulglocke hatte ihn für einen Moment freigegeben. Sie würde es auch sein, die ihn wieder zurückholen sollte zur nächsten Schulstunde, welche noch zwischen ihm und dem lang ersehnten Nachmittag lag. Kaum, dass er wieder am Ausgangspunkt seines kleinen Spaziergangs angelangt war, ertönte auch schon das gewohnte, schrille Läuten jener Schulglocke – und er wachte auf.

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